Ein italienischer Traum
Der Raum, in den ich zur Befragung gebeten wurde, war spärlich eingerichtet. Spärlich funzelte auch das Licht. Der feiste Assistente, was einem deutschen Hauptwachmeister entsprach, schob mich unsanft durch die Tür. Der Commissario saß am Tisch, in einer merkwürdigen Zwangshaltung über die Akten gebeugt. Eine Lesebrille hätte leicht Abhilfe schaffen können, aber das widersprach seiner italienischen Eitelkeit.
„Buona sera“, begrüßte er mich. „Sie waren am Parkplatz nicht angemeldet, online versteht sich! Dafür werden 900 Euro fällig!“ Mein Puls ging schneller und ich suchte nach einer Rechtfertigung: „Das Internet, das Chaos, die Digitalisierung! Wir hatten es versucht, aber…“ „Nichts, aber“, unterbrach er mich. „Sie denken, hier ist vielleicht alles chaotisch und ohne Regeln! Aber es funktioniert am Ende! Sie haben Regeln, viele Regeln, hinter denen Sie sich verstecken, aber am Ende läuft bei Ihnen nichts!“ Was sollte ich darauf erwidern? „Wenn Sie sofort zahlen“, fuhr er fort, „brauchen Sie nur dreißig Euro zu zahlen und Sie können das mit der nachträglichen Anmeldung verrechnen!“ Diese Auslegung von rechtsstaatlichen Verwaltungshandeln ist etwas ungewohnt. Der Punkt geht an den Commissario.
Mit einem lässigen Wink bat er mich Platz zu nehmen. Stumm zeigte er auf den schäbigen Hocker. Im schwachen Licht erkenne ich das Signum. D&G, bei uns zu Hause würde man ordentlich dafür bezahlen müssen, hier ist jeder schiefe Schemel ein Markenprodukt.
„Nun erzählen Sie mal“, begann er plötzlich, „wo waren Sie am Sonntag?“ Ich musste kurz überlegen, denn zu viel war seitdem passiert. „Da fuhren wir um 19.00 Uhr am Divi-Parkplatz los, wo wir immer starten!“ entgegnete ich. „Wir kamen gut voran und kaum, dass es wieder hell wurde, sahen wir schon den Hirsch neben der Autobahn.“ „Einen Hirsch?“ „ Ja, ein prächtiges Tier, bestimmt ein Sechzehnender. Aber eigentlich wollten wir den Ötzi sehen, oder wenigstens Reinhold Messner. Leider ging das nicht, Messner war mit seiner neuen Frau beschäftigt und wir mussten weiter, um die Stadtführung zu erreichen. Der Busfahrer gab alles, aber es war zwecklos. Wir waren zu spät. Die Lenkzeiten, Sie wissen schon!“ Und ob er wusste, missmutig bestellte sich der Kommissar einen Espresso. Ohne Zucker, mit Süßstoff. Wegen der Lenkzeiten war er seinerzeit zu spät zur Hochzeit seiner Schwester gekommen. Seine Schwester heiratete in Stralsund und es war nicht zu schaffen. Aber natürlich geht die Sicherheit vor. Zumindest auf der Hinfahrt. Als er merkte, wie seine Gedanken abschweiften, fragte er: „Und wenn Sie zu spät waren, wie konnten Sie dann doch an der Führung teilnehmen?“ „Am nächsten Tag“, erklärte ich, „wir haben einfach angerufen und auf Italienisch umbestellt. Das war eigentlich unmöglich, aber es funktionierte. Sogar die Kopfhörer bekamen wir, als wir von unserer Exkursion auf die Insel Murano zurückkehrten. Natürlich mit dem Vaporetto.“ „Haben Sie denn wenigstens etwas von dem überteuerten Glas gekauft?“, wollte er wissen. Seine braunen Augen glänzten bei dem Gedanken, dass auch diese Reisegruppe durch Geldausgeben die italienische Lebensart mitfinanzierte. „Ja, habe ich“, antwortete ich wahrheitsgetreu. „Und es sieht sogar recht schön aus“, sprach ich in Gedanken zu mir. Die Führung durch die Altstadt war ein Ereignis, ein Starkregenereignis! Der Regenumhang, den mir der freundliche Straßenhändler verkaufte, wäre ein prima Gastgeschenk für Laurin den Zwergenkönig gewesen und ich hätte ihn in die Grotta Gigante mitnehmen sollen. Anziehen konnte ich ihn jedenfalls nicht. Also, nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Aber es gibt einen Dissens zwischen mediterran verzwergter Regenschutzbekleidung und den Maßen eines normalen Mannes mittleren Alters, eines Vaters und Ehemanns. Ron und Harry wären mit diesem Zauberumhang verloren gewesen. Ich aber war nass.
„Sie sagen, Sie wollten in die Grotta Gigante“, fuhr der Commissario fort, „erklären Sie mir mal diese Bilder!“ Er zeigte auf verwackelte Fotografien, die unseren Bus zeigten, wie dieser im Rückwärtsgang aus einer Serpentinenstraße kam. „Ja, das war so,“ bestätigte ich den Wahrheitsgehalt der Fotos. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass deutsche Fahrzeuge auf italienischen Straßen den Rückzug antreten mussten. Diesmal war es unbestreitbar die Schuld des Navigationssystems. Man kann vom Schloss Miramare in Triest zwar nach Wien, aber nicht zur Grotte fahren. Aber immerhin waren Istrien und das Ucka-Gebirge gut zu sehen. Kroatien mal von links her, überlegte ich und musste dabei an Frau Jürges denken… „Die schönen Fotos hätten wir den pensionierten Hobbyfotografen zu verdanken, die Schäden an ihren Gartenzäunen bei der Ausfahrt in der Hoffnung auf Reparationszahlungen dokumentieren wollten“, erklärte mir der Kommissar. Aber da kannten die besorgten Rentner unseren Busfahrer schlecht. Mensch und Maschine waren eins und Heiko lenkte mit ruhiger Hand souverän das überlange Vehikel sicher auf die Hauptverkehrsstraße.
Langsam wurde ich etwas unruhig. Mir war immer noch nicht klar, was der Commissario eigentlich erfahren wollte. War die Befragung lediglich ein Mittel, die Zeit totzuschlagen? Endlich ließ er die Katze aus dem Sack. „Wissen Sie, warum Sie hier sind?“, fragte er unvermittelt. „Ich glaube schon“, antwortete ich. „Sie wollen wissen, wer auf die Idee mit dem Weingut kam?“ „Nein“, antwortete er sofort. „Das nicht. Wir finden es gut, wenn die jungen Leute sich an Parmaschinken, getrüffelter Mortadella und Parmesan-Käse sattessen können, wie ich hörte, haben Sie in Mecklenburg ja sonst…“ „Stopp,“ unterbrach ich ihn. „Die Kinder hatten Hunger und waren von der Odyssee auf Venetiens Straßen völlig erschöpft. Außerdem gehörte diese Betriebsbesichtigung inhaltlich zum Wirtschaftskurs. Und zum Chemieleistungskurs!“ hörte ich mich rufen. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“, fragte ich nun ärgerlich. „Ich muss zurück zu den anderen! Fünfzig Schülerinnen und Schüler warten, dass wir endlich nach Verona fahren, um in der Arena ein Konzert zu erleben.“ „Na endlich“, sprach der Kommissar, „jetzt sind wir soweit! Sagen Sie mir doch endlich, woher Sie wussten, dass an diesem Abend Vollmond sein wird!“
Tiefe, schwarze Wolken zogen über die Lagune, die frische Brise kündete vom nahenden Unwetter und der Commissario schlenderte zufrieden im feinen Zwirn, die Sonnenbrille in die lässig nach hinten gekämmten Haare gesteckt, durch die engen Gassen der Stadt. Nur noch wenige Augenblicke trennten ihn also von der Lösung dieses merkwürdigen Falles. Nur noch Sekunden und er würde den Informanten treffen, der die Antwort auf diese eine Frage kannte. Auf der Rialto-Brücke konnte er ihn schon erspähen, sah ihn schon winken. Jetzt fing er an zu rufen! Hatten sie nicht verabredet, dass ihr Treffen unbemerkt bleiben sollte? Doch was war das? Andere Personen auf der Brücke stimmten ein in das Rufen, mit jeder weiteren Person wurde der vielstimmige Chor lauter und der Gesang fürchterlicher: „Dengel, dengel, dengel, deng- beinhart wie ein Rocker, beinhart wie ein Chopper, beinhart geht das ab hier...“, schrie es durch den Bus und ich schreckte auf. Hatte ich geschlafen, bin ich wach? War das alles nur ein italienischer Traum?
H.Mieth